Die Trauer der Zurückbleibenden
Wenn wir nicht mehr so ganz jung sind und glauben, der Tod geschieht nur den anderen, haben
die meisten allein durch eine aufmerksame Beobachtung der Welt gelernt, dass Werden und
Vergehen zum Leben gehören, ja, dass Werden und Vergehen zwei Seiten des einen Lebens
sind, so wie die Blüte und die Wurzeln einer Pflanze oder Yin und Yang. Und obwohl wir dies
immer wieder erleben, ist es doch so überraschend und plötzlich, wenn das Vergehen dann auch
geschieht.
Mehr als 50.000 Menschen sind in Deutschland inzwischen im Zusammenhang mit dem
Coronavirus gestorben (Stand 22.01.2021). 2,1 Millionen am Coronavirus Verstorbene sind es
weltweit (täglich ca. 14.000). Um ihrer zu gedenken, plant Bundespräsident Steinmeier eine
zentrale Feier nach Ostern. Aber auch davor soll ein Zeichen gesetzt werden. Bundespräsident
Frank Walter Steinmeier hat dazu aufgerufen zum Gedenken an die Verstorbenen eine Kerze ins
Fenster zu stellen.
50.000 – eine riesige Zahl und meine kleine Kerze. In meinem Wohngebiet sehe ich sonst keine.
50.000 – ich kann mir diese Menschenmenge nicht einmal vorstellen und schon gar nicht 2,1
Millionen. Und was soll das überhaupt? Was geschieht da, wenn ich meine Kerze aufstelle? Mir
fällt nur eines ein, mir wird die Tatsache bewusster, dass wirklich sehr viele Menschen an Covid
19 sterben. Aber ich merke, mehr auch nicht. Ich bin nicht einmal geschockt, denn ich kenne
niemanden, der daran gestorben ist. Ich weiß nicht, ob und wie lange sie gelitten haben, wie
gerne sie noch länger gelebt hätten, weiß nichts über ihr Leben und ihre Zusammenhänge. Das
heißt, diese Menschen sind völlig anonym für mich. Außer meinem Menschsein verbindet mich
nichts mit ihnen. Ja, ich überlege, wie wäre es, wenn ich an der Stelle eines dieser Menschen
wäre. Der Tod schreckt mich irgendwie wenig.
Aber da gibt es einen guten Bekannten, der in Corornazeiten an Krebs gestorben ist. Er war zum
Schluss im Krankenhaus und konnte nicht täglich Besuch bekommen. Dieser eine Tod berührt
mich mehr. Ich kannte ihn, hatte über viele Jahre einige sehr gute Gespräche mit ihm, wusste
durch eine gemeinsame Arbeit einiges aus seinem Leben. Durch Gespräche mit seiner Frau
werde ich an meine eigene Trauer nach dem Unfalltod meines Mannes erinnert.
Trauer ist etwas anderes als Gedenken. Trauern können nur die, die zurückbleiben. 365 Tage im
Jahr das erste Mal ohne den Verstorbenen. Nach dem plötzlichen Tot auch so viel, was nicht
geklärt war, seine Anwesenheit in allen Ecken der Wohnung. Nicht wahrhaben wollen, den
Verstorbenen plötzlich irgendwo zu sehen glauben. Diese Trauer, die wie eine große offene
Wunde im Herzen sitzt, körperlich schmerzt. Diese Trauer, die mich plötzlich überall überfallen
kann und ich dann nicht mehr weiß, wohin ich mich retten soll. Diese nicht oder nur im Auto
geweinten Tränen. Die Angst der Mitmenschen, ihre Unfähigkeit mit mir umzugehen. Meine
Unfähigkeit mit allem umzugehen. Mein Unvermögen mit der Trauer oder scheinbaren Nicht-
Trauer der gemeinsamen Kinder umzugehen.
Wenn ich an die Zurückgebliebenen denke, auch an mich als Zurückgebliebene, wenn mir diese
Zeit wieder präsent wird, fällt mir immer ein Gedicht von Mascha Kaleko ein:
Memento
Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
Und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der anderen muß man leben.
(1945)
So oder ähnlich wird es wohl auch den Hinterbliebenen der Coronatoten gehen.
Nach dem Tod meiner Mutter, die mit 90 Jahren und einem langen erfüllten Leben starb, war die
Trauer ganz anders. Da war ein Einverständnis. Unser Abschied begann bereits viele Jahre vor
ihrem Tod, Jahre in denen sie noch lebte, aber meinte, es sei jetzt allmählich Zeit. Jahre in denen
ich ihr meine Dankbarkeit sagen konnte, aber auch meine Vorwürfe.
Trauer und Abschiednehmen hängen eng zusammen und beides beginnt nicht immer erst nach
dem Tod. Wenn alles, was die Beziehung trübt, ausgeräumt ist, kann die Liebe fließen, dann wird
sie nicht behindert von Erwartungen, Versäumnissen, schlechtem Gewissen und Schuld. Dann
ist da einfach eine Herz-zu-Herz Verbindung. Dann kann ich den anderen auch gut gehen lassen.
Dann kann es zu einem Einverständnis kommen, sogar mit dem Tod. Dann ist am Ende vor allem
Dankbarkeit für das eigene Leben und das des anderen, für die gemeinsame Zeit, einfach ein
großer unendlicher Raum von Dankbarkeit im Herzen.
Und zum Abschied gehört auch irgendwann die Vergebung. Es gibt wohl keine Beziehung, in der
es nicht auch etwas zu vergeben gibt. Seltsamerweise umfasst diese Vergebung beide Seiten.
Es reicht nicht aus, dem anderen, dem Verstorbenen, zu vergeben. Da es niemand anderer kann
als ich selbst, muss ich auch mir selbst vergeben. Muss ich mir die Achtlosigkeit, die mangelnde
Zeit, die Eigensucht, die Rechthaberei, die tauben Ohren…vergeben. Es gibt da fast mehr sich
selbst zu vergeben, als dem Verstorbenen. Diese Vergebung macht frei. Frei für das weitere
Leben, frei für die Dankbarkeit, frei für die Liebe, die erhalten bleibt.
Aber mit Vergebung und Dankbarkeit sind wir bereits am Ende des Prozesses. Bevor es so weit
ist, durchleben die meisten Menschen auch eine Phase von Wut und Zorn. Diese Wut kann sich
auch in Wut auf den Verstorbenen äußern, dass man z.B. allein gelassen wurde mit vielfältigen
im Anfang kaum zu bewältigenden Aufgaben. Es kann aber gerade im Zusammenhang mit der
Pandemie Zorn auf die Krankheit sein, Zorn auf die Ärzte, die Pflegenden, die Behandlung… und
vor allem Zorn auf die Institutionen, auf den Lockdown, auf das um-den-Abschied-betrogen-
Sein. Dieser Zorn ist wichtig und muss sich äußern können. Vielleicht reicht da ein Schrei
draußen in der großen Natur, vielleicht muss die Wut weggerannt werden, vielleicht muss man
seinem Herzen Luft machen mit einem Brief.
Was aber ganz viel hilft, ist, unendlich oft jemand anderem von dem Verstorbenen erzählen
können, mit dem Reden über ihn oder sie seine Existenz in meinem Leben bestätigen, redend
verarbeiten, was geschehen ist. Dazu braucht es geduldige Zuhörer, immer wieder, auch wenn
es zum zehnten Mal geschieht.
Es ist schwer in den jetzigen Zeiten, in denen sich nicht mehr als zwei Menschen treffen dürfen
und die Kontakte eng begrenzt gehalten werden sollen, geduldige Zuhörer zu finden. Aber
wünschen kann ich sie mir für all die Menschen, die einen lieben Menschen verloren haben.
Dann können sie ihn in ihrem Herzen wiederfinden.
Dafür möchte ich gern eine Kerze anzünden.
Und ich möchte diese Kerze anzünden dafür, dass wir nicht nur der Coronaopfer und ihrer
Angehörigen gedenken und für sie da sind, sondern auch der 21.000 Flüchtlinge, die seit 2014
im Mittelmeer ertrunken sind, und derer, die zurückgeblieben sind, zurück in der Heimat oder im
Leben. Ich möchte eine Kerze für uns anzünden, dass wir nicht vor lauter Sorge um unsere
Gesundheit verhärten und als Zurückbleibende die Not der anderen nicht mehr sehen.
Ja, ich glaube, ich möchte für uns eine Kerze anzünden, damit ihr Licht weit strahlt in die Welt
und in unser Herz, das voller Dankbarkeit ist für die Fülle des Lebens, die wir erfahren dürfen,
und die Not überall dort sieht, wo sie uns entgegentritt.